Einige Gedanken zum Austausch
Seit über einem Jahr gibt es jeden zweiten (jetzt ersten) Freitag im Monat in der Tempest Library das Projekt Austausch. Wir haben uns vor über einem Jahr von Gefährt*innen aus der Anarchistischen Bibliothek Wien inspirieren lassen, die mit einem ähnlichen Projekt auch einmal im Monat zu einer Diskussion aufrufen. Die Idee ist, Texte die wir wichtig finden zu drucken und in der Stadt zu verteilen und gleichzeitig einen Raum für Reflektionen, Fragen, Anregungen, Diskussionsverlangen, Zweifel und Inhalte zu eröffnen. Und zwar mit allen möglichen Menschen, aber auch mit Gefährt*innen, die sich für die jeweiligen Inhalte interessieren. Dies fanden wir nicht nur wichtig, sondern auch brillant und (auch) in Berlin absolut notwendig.
Denn die Diskussionskultur, die Auseinandersetzung mit Theorie und Praxis, sind in den Gruppen eingeschlossen und dadurch auch beschränkt. Genauso wie das Wissen und Unwissen rund um den Anarchismus, so auch anderen radikalen Bewegungen und Ideen. Wir leben in einer Zeit, wo sehr oft mit aufgeladenen Wörtern herum geworfen wird, wobei wir uns oft nicht sicher sind, ob viele überhaupt wissen/verstehen was sie gerade sagen, oder ob sie einfach nur Parolen nachplappern.
In Berlin gibt es ein enormes Angebot an Veranstaltungen, jedoch wird in diesen kaum diskutiert. Meistens werden viele, oft leicht konsumierbare Informationen ausgegeben, die Veranstaltungen enden dann mit ein paar Nachfragen und selten in einer Diskussion. Oder noch schlimmer: auf einem Podium diskutieren selbsternannte Expert*innen, der Rest wird degradiert als Zuschauer*in und lässt stellvertretend reden. Politik und Stellvertretung, die Feinde der Emanzipation und Selbstbestimmung, haben keine Konsequenzen für das eigene Handeln außer die Fremdbestimmung. All diese Veranstaltungsformen ähneln mehr einem Besuch im Kino wo „alle Zuschauer ästhetisch vereint und paralysiert“1 sind durch das Anschauen eines Filmes und nachher im Glauben sind, eine gemeinsame Erfahrung erlebt zu haben, die sie alle verbindet.
Der Erfolg einer Veranstaltung/Diskussion wird seit langem an der Zahl der Anwesenden gemessen und nicht an den Auswirkungen dieser. Eine Auswirkung kann eine Weiterentwicklung der teilnehmenden Person sein, was jedoch meist die aktive Teilnahme benötigt, da wir alle Lernende und somit auch alle Lehrende sind. Die eigentliche Auswirkung kann also die daraus entstehende praktische Erfahrung sein, die mein Handeln beeinflusst und erweitert.
Der Ablauf/Aufbau von Veranstaltungen hier in Berlin leidet an vielen Mängeln sowie an einer Konsumhaltung. Informationen und Wissen werden wie jede andere Ware innerhalb der Warenlogik verwendet und ohne Nutzen angehäuft. Die Anhäufung von Wissen ist dann auch ein Hindernis vieler, um sich an Diskussionen beteiligen zu können, denn Wissen wird selten kollektiviert. Ganz im Gegenteil – es stärkt die Figur des/der Expert*in, die mit ihrem akkumulierten Wissen die Veranstaltung/Diskussion dominiert. Da Wissen nicht geteilt oder kollektiviert wird, wird es zu einer fetischisierten Ware2, die unbrauchbar ist und entfremdet. Sie stärkt nur die Position der Eigentümer*innen dieser Ware gegenüber denen, die Habenichtse sind und nicht solches Wissen haben. Machtgefälle spiegeln sich auch im Wissen und im Können wider. Der Moment, in dem aus der Theorie eine Praxis entstehen könnte, bleibt meistens aus, weil die Diskussionen nicht Menschen verbinden, sondern weiter als atomisierte Individuen dastehen lassen und weil dieser Konsum keine Auswirkungen für mein eigenes Leben hat.
Auf der einen Seite steht die dominante Figur der/des Expert*in als Leiter*in und Verwalter*in von Information und Wissen, die in Form von Fragen – aber nicht in einer Diskussion, Auseinandersetzung, Kontroverse – auf der anderen Seite die zu konsumierenden Besucher*innen beschmeicheln. Zwei klassische Figuren, die im Kapitalismus zu typisch sind: Individuen sind definiert und reduziert auf Subjekt (Veranstalter*in/Expert*in) und Objekt (Besucher*in/Konsument*in).
Es gibt auch die Problematik, dass sich viele Menschen aufgrund von Wissensmangel oder Angst des öfteren nicht trauen, ihre Unwissenheit offen darzustellen, um sich nicht der Blamage der Ignoranz oder der Demütigung „dummer Fragen“ stellen zu müssen. Aber: wo kein Platz für dumme Fragen ist, ist auch kein Platz für schlaue Antworten. Diese Notwendigkeit braucht eine Atmosphäre der Offenheit und Lust zum Austausch mit allen möglichen Menschen. Wie auch eine Bereitschaft, sich in Konflikte zu begeben, um an ihnen zu wachsen, anstatt ihnen aus dem Weg zu gehen, wie es leider gesellschaftlicher Standard ist.
Deswegen wollten wir mit diesem Projekt diese Problematiken am Zopfe packen. Um eine Grundlage aufzubauen, die oben beschriebene Probleme anzugehen. Einen Raum zu erschaffen, wo alle Akteure sind und keine Masken tragen müssen. Keine Zuschauer*innen sind, die das Spektakel aktiv in sich hinein schaufeln, wo alle Hauptfiguren sein können, wo die Möglichkeit einer Diskussion und Auseinandersetzung entsteht. Ohne ein lahmer Lesekreis zu werden, welcher sich mehr irgendeinem „Salonanarchismus“ ähnelt. Möglichkeiten kreieren, radikale Ideen gemeinsam zu diskutieren und zu schmieden. Eine Brücke zwischen Theorie und Praxis aufbauen. Genauso wie die Notwendigkeit, wieder das Diskutieren zu erlernen, wie auch das Verteidigen der eigenen Ideen und Positionen. Und auch über Dinge zu diskutieren, die uns nicht gefallen und die wir als problematisch empfinden, oder wie einige hier in Kreuzberg es gerne sagen, „wieder zu lernen, Probleme zu problematisieren!“.
Jetzt nach einem Jahr stoßen wir aber selbst an Grenzen und sehen, dass wir teilweise genau das gleiche machen, was wir nicht machen wollten. Ein paar Genossen*innen und Gefährt*innen äußerten diesbezüglich Kritiken darüber, wie diese Grenzen gemeinsam aufgehoben werden könnten.
Die Verbreitung der Texte klappt gut. Meistens werden fast alle ausgelegten Texte zumindest mitgenommen. Oft haben wir gehört, dass Leute die Texte lesen, aber nicht zu den Diskussionen kommen (können).
Das Feedback zu den Diskussionen selbst ist meist sehr positiv. Einige haben gesagt, sie hätten schon lange nicht mehr in Ruhe solch grundlegende Fragen so tiefgehend diskutiert. Ist natürlich nicht immer und bei allen so, im Alltag des Aktivismus scheint dies jedoch selten zu sein.
Der Austausch wurde jedoch teilweise zu einer Art Lesegruppe, wo „Meinungen“ ausgetauscht wurden, ohne dass daraus eine gemeinsame Praxis entstehen konnte.
Es gibt eine fehlende Vertiefung in Themen, wie sich z.B. mehrere Monate lang mit einer Thematik aus verschiedenen Positionen zu beschäftigen. Dies verhindert, aus der vorherigen Diskussionen kohärentes kollektives Wissen aufzustellen. Wir fingen immer wieder von null an, weil die Kontinuität der Teilnehmer*innen immer sehr unterschiedlich ist. Sowie auch die Auswahl der Texte auf einen reduzierten Personenkreis fiel und dies nicht kollektiv entschieden wurde. So konnte dem Verlangen nach anderen Texten oder Wünschen nicht nachgegangen werden. So wurde jede inhaltliche Kontinuität schwierig und wir sind von einem Thema zum anderen gesprungen. Da ist auch wieder die Figur der Besucher*in/Konsument*in entstanden, die einfach einem Aufruf zur Diskussion gefolgt ist, aber nicht in diesem mit entscheiden konnte. Andererseits ist uns eine gewisse Richtung auch wichtig, wir wollen Texte verbreiten die wir auch gut und sinnvoll finden. Die geringe Anzahl der Vorbereitenden erleichtert die Auswahl und machen das Projekt recht unkompliziert, was auch zu einer Langfristigkeit beitragen kann. Und wenn wir kein geschlossener Kreis werden wollen, werden immer Andere hinzustoßen, mit denen der Austausch „bei Null“ anfängt.
Wir konnten nach einigen Diskussionen auch nicht feststellen, ob auf der individuellen oder kollektiven Ebene gesagt werden konnte, ob wir den Text verstanden hatten, bzw. verstanden hatten was der/die Autor*in uns mitteilen wollte. Denn all dies sollten wichtige Übungen sein, denen in Zukunft klarer nachgegangen werden sollte. Wie z.B., was will der/die Autor*in mit dem Text sagen, was verstehe ich darunter, wie stehen meine Ideen, Notwendigkeiten und Verlangen dazu…
Es gab den Vorschlag, enger am Text zu diskutieren, um einen einfacheren Einstieg zu ermöglichen und um Wissenshierarchien entgegenzuwirken. Von anderen wurde aber gerade betont, dass die „freien Diskussionen“ die durch die Texte angestoßen wurden, das eigentliche Interessante, die eigentliche Qualität sei. Es ist schwierig, all diese Wünsche und Notwendigkeiten zu verbinden. Vielleicht sollten wir hier mehr experimentieren, klare Antworten haben wir nicht, sondern wir sind uns einiger Widersprüche bewusst geworden und wollen sie aufheben.
Genauso wie eine weitere Übung auch sein könnte, was machen wir mittel- und langfristig aus dieser gemeinsamen Erfahrung? Nicht nur Wissen zu kollektivieren, sondern wie kann dieses in Form von Praxis umgewandelt werden? Kann auch aus der Übung des Lesens kollektiv das Wissen für die Notwendigkeit des Schreibens entstehen oder erlernt werden? Wie kann dieses ganze Wissen, welches nicht akkumuliert werden sollte, in die Realitäten, die uns umgeben, angewendet werden? Was verbindet mich mit den Menschen mit denen ich diskutiere auch nach der Diskussion, oder ist dies der einzige verbindende Moment mit ihnen?
Deswegen veröffentlichen wir diese Gedanken, um offen mit den Widersprüchen umzugehen.
Für Anregungen und Kritiken schreib uns an unsere Email, oder kommt bei der Diskussion vorbei.
„Was wir also wollen, ist die völlige Zerschlagung der Herrschaft des Menschen über den Menschen und der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen; wir wollen die Menschen durch eine bewußte und erwünschte Solidarität vereint sehen als Brüder, die freiwillig für das Wohl aller zusammenarbeiten; wir wollen eine Gesellschaft, die sich konstituiert in der Absicht, jedermann mit den Mitteln zu versehen, ein Maximum an Wohlergehen und an moralischer und geistiger Entwicklung zu erreichen; wir wollen Brot, Freiheit, Liebe und Wissenschaft für jedermann.“
Errico Malatesta, Ein anarchistisches Programm, 1920